Die fünf Wunden magischer Frauen – Ein neues Kapitel
Dieser Text ist auf Deutsch.
Vorwort: Wir haben uns weiterentwickelt
Es ist Zeit, zurückzublicken – ohne zurückzufallen.
Vor Jahren haben wir bei Inanna und hier im Blog begonnen, über die fünf Wunden magischer Frauen zu sprechen.
Damals klang es nach Heilung, nach Kreisen, Ritualen, nach dem Versuch, das Vergangene zu reparieren.
Und das haben wir bei Innana in den letzten Jahren getan. Wir haben viele Schmerzen aufgelöst - die der Wind inzwischen fortgeweht hat.
Manche sind in neuer Form zurückgekehrt, leichter, ironischer.
Wir können uns inzwischen selbst besser begegnen mit unseren Rissen und Frakturen, und sprechen schamlos, mit entspannter Ironie und Mitgefühl für frühere Dramen und angehende Schmerzen.
Nun, nach allem, was wir gelernt und verloren und wiedergefunden haben, geht es um etwas anderes.
Wir heilen nicht mehr. Wir erinnern.
Wir beenden keine Schmerzen, wir lesen ihre Gechichten.
Denn unsere Wunden sind älter als jede einzelne von uns.
Unsere Wunden sind Risse im Fundament der weiblichen Kultur – Spuren einer unterbrochenen Zivilisation. Wer sie erkennt, erkennt auch sich selbst: nicht als Opfer der Geschichte, sondern als ihre Fortsetzung in geläuterter Form.
Wir verstehen uns als treue Bewahrerin eines Wissens, das zu lange nur geflüstert wurde.
In unserem neuen Verständnis erzählen die fünf Wunden uns keine Leidensgeschichte.
Wir hören Legenden und Heldinnengeschichten, die uns von Tapferkeit, und Witz und unzerstörbarem Lebensmut singen.
Die fünf Wunden sind Verzerrungen einstiger Überlebensweisheiten, die wir verlernt haben, weil sie nicht in das lineare Denken der Moderne passen:
die Wahrnehmung der Verbannung,
die Sinnlichkeit der Venus,
die schöpferische Überfluss-Ökonomie der Gaia,
die selbstverständliche Autorität der Kaiserin
die unverschämte, laute Heiligkeit der Priesterin, Seherin, Närrin.
Die Erinnerung an unsere kollektiven Wunden ist kein Aufruf, uns zu verbessern. Oh nein!
Dies ist eine Einladung, uns zu erinnern, dass wir das, was zu zu lernen gab, verstanden haben. Unsere Narben, trotz gelegentlich aufflammender Schmerzen und, seien wir ehrlich, bescheuerten Verhaltens, sind der Beweis.
Lies das, was nun kommt nicht als Handbuchs der Selbstoptimierung.
Du bist bereits optimal. Sonst wärst du schon lange nicht mehr hier. Lehn dich entspannt zurück und sei stolz, dass du immer noch hier bist.
Durch die Risse der fünf Wunden schimmern die Spuren einer vergessenen weiblichen Geschichte, die sich gerade neu zusammensetzt.
Wir finden die Risse und füllen sie mit Gold.
Hier waren wir einst verletzt.
Hier haben wir überlebt.
Wir sind Zeuginnen und Schöpferinnen zugleich.
Du und die Welt.
Wir sind eins.
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1. Die Wunde der Verbannung („Hexenwunde“)
Du warst schon früh anders. Nicht, weil du es wolltest – sondern weil dein Körper und Geist beschlossen hatten, der alten Geschichte treu zu bleiben.
Seit Jahrhunderten erinnert sich dein Nervensystem daran, dass Anderssein gefährlich ist. Und also erfindest du es immer neu, dein dir selbst so verhasstes Anderssein.
Du hasst es mitnichten, dein Anderssein.
Du kleidest dich darin wie in einen Schutzzauber.
Manchmal zeigt es sich als Überempfindlichkeit, als Krankheit, als Sonderbegabung, als Rückzug.
Es ist deine unbewusste Art, das uralte Gefühl von Nicht-Dazugehören zu rationalisieren.
Wenn du dich schon fremd fühlen musst, dann wenigstens mit Stil.
So funktioniert die Wunde der Verbannung: Sie erschafft sich selbst, immer wieder.
Ein subtiles Ritual der Selbstbestätigung und zugleich eine Form von Humor, die nur Eingeweihte verstehen. Sei du selbst diese Eingeweihte:
Sag: Ja! So habe ich mich selbst kreiert. Als Monument des Andersseins und des Widerstandes.
In den tiefsten Schichten bist du keine Opferin der Geschichte, sondern ihre Autorin.
Du hast gelernt, dich selbst zu spielen, bevor dich jemand anders in diese Rolle zwingt.
Das ist deine heimliche Magie: aus Trauma Theater zu machen, aus Schmerz Intelligenz, aus Fremdheit Form und Ironie.
Und vielleicht beginnt Heilung genau dort, wo du darüber lachen kannst. Am besten mit anderen, aber nicht als Klassenclownin, die ihre Maske verwendet, um den Schmerz abzuweisen, sondern mit beiden Füssen fest verankert im Kompost deines verbotenen Wissens. Leicht angeschlagen, aber unbesiegt.
2. Die Wunde der Venus („Venuswunde“)
Dein Körper kann Dinge tun. Aber du, verkörpert, bist kein Werkzeug, schon gar nicht des Plaisiers anderer Leute!
Du bist eine Seele, die in der Materie wirkt und Spuren hinterlässt. Du bist eine Sprache.
Jede Zelle spricht, jede Pore hört zu.
Deine Fingernägel wissen von Sehnsucht und Zeiten, als du dich festgekrallt oder zu früh losgelassen hast. Vielleicht sind sie nun brüchig oder ausgetrocknet.
Was fühlen deine Fingernägel?
Geh deinen ganzen Körper durch. Jeden Tag ein neuer Dialog. Deine Ohren. Deine Haare. Deine Nieren. Dein Dünndarm. Hunderte von Stimmen, denen du selten zuhörst.
Die Wunde der Venus beginnt überall dort, wo du aufhörst zu fühlen.
Sie entsteht, überall dort, wo du dich vom eigenen Fleisch trennst, weil die Erinnerung an Lust, Hunger und Müdigkeit zu unpassend scheinen.
Eigenes Begehren? Gefährlich. Schwäche? Peinlich.
Du hast gelernt zu funktionieren. Ein ästhetisches Gebrauchsorgan. Unermüdlich.
Die Gottin, die sich deinen Körper kreiert hat, um sich neugierig und genüsslich in der Materie zu entfalten, verweigert sich all deinem Missbrauch. Sie protestiert mit schmerzendem Fleisch, trockenen Lippen und schlaflosen Nächten.
Sie sehnt sich danach, ihren Tempel wieder zu bewohnen - gerne mit Blumen, Schokolade und edlen Räucherwerk, vor allem aber mit Atem, Berührung und schamloser Gier nach Leben.
Finde die Risse in der perfekten Fassade. Risse sind keine Fehler, sie sind Spuren deiner heimlichen Verweigerung. Ehre sie. Fülle sie mit Gold.
Vielleicht fängst du an, leise mit deinen Gliedern zu sprechen:
Danke, Füße, dass ihr mich tragt.Danke, Bauch, dass du weich bleibst, auch wenn ich alles daran setze, dich hart zu machen.Danke, Herz, dass du weitermachst, obwohl ich absolut nicht auf dich höre.
Verwandt mit der Venuswunde ist die Marswunde:
Falls du beim Spüren wütend wirst auf Männer, auf Systeme, auf dein eigenes Körpergedächtnis, dann schreib es auf.Alles.
Die empörten Sätze deiner Grossmütter. All die Clichés des instagram Girly-Netzwerkes.
Alles.
Dann lies es dir selbst (oder deinen Frauen oder Katzen) laut vor und verbrenne es mit wilden Gekichere.
Deine Männerbeziehungen, romantisch oder nicht, werden definitv davon profitieren.
Venus liebt Feuer und lauten Gesang. Sie lacht über Befürchtungen, zu schrill zu sein oder zu peinlich.
Sie will dich ganz, das war immer ihr Plan: Eine rundum verkörperte Weiblichkeit zu sein. Nicht „Bauch-Beine-Po“ sondern ein wunderschönes, wildes, schwitzendes, fühlendes Tier.
Wenn du ihr diesen Körper als Tempel zurückgibt, wirst du erfahren, was du einst verloren hast: Lust, Behagens, magnetische Lebendigkeit.
3. Die Wunde des Mangels („Geizige Gaia“)
Du bist geboren, um dich zu verschenken. Fruchtbar in jeder Dimension. Grosszügig und Überfliessend. Alles an dir will wachsen, sich verzweigen, weitergeben.
Fülle war deine Natur und Mangel war dir fremd.
Dann kam die Ökonomie des planvollen Wachstums. Du solltest produzieren wie ein Nutztier. Unaufhörlich geben und selbst im Mangel verharren.
So begann die Wunde der Gaia sich zu modernisieren.
Sie trägt jetzt Yoga-Leggings der richtigen Marke, redet von „Abundance“. Sie hat Schulden und jammert über Geldnot und füllt ihre Schränke bis zum überquellen mit billig produzierten T-Shirts.
Sie schreibt „I am enough“ in ihr Notizbuch, gönnt sich keine Erholung und schämt sich für jede Minute, in der sie nicht „produktiv“ ist oder sich selbst optimiert. Selbst Meditation muss irgendwie „was bringen“ - wenn nicht, muss eine neue „Praxis“ her.
Kapitalismus mit Bündeln weißen Salbeis ist die neue Religion. Sie lässt dich glauben, dass der Mangel und die Erschöpfung, die du erlebst, daran liegen, dass du deine Schwingung nicht richtig justiert hast.
Doch Gaia schwingt nicht. Sie bebt.
Sie will kein Mindset.
Sie will Regen, Dunkelheit, Rotz, Blut, Humus.
Sie will, dass du den Dreck unter deinen Fingernägeln wieder ehrst. In den ältesten Legenden wurden Menschen aus dieser Substanz geformt.
Gaias Wunde ist der Raubbau: die endlose Ausbeutung derer, die geben, ohne zurückzufordern. Frauen, Mütter, Heilerinnen, die mit knapper Not über die Rundrn kommen, während irgendwo ein Influencer mit zuviel Bitcoin über „Selfcare“ predigt.
Aber Gaia hat Humor. Sie agiert in sehr langen Zyklen. Am Ende ist es immer ihre Zeit. Bis dahin ruht sie. Sie lässt Felder brachliegen, damit sie wieder fruchtbar werden.
Dies ist die radikalste Form von Reichtum, die es gibt: dich selbst nicht mehr zu benutzen.
Denn die eigentliche Armut ist nicht draußen – Mangel ist programmiert in unsere Köpfe.
Das ständige Gefühl von „nicht genug“, lässt die meisten ackern ohne einen einzigen Augenblick innezuhalten. Der Überfluss, der unaufhaltsam produziert wird, endet in Speichern, die niemals etwas zurückgeben. Sinnloses Horden. Unser eigenes heimliches Messitum, das peinliche Sammeln von Gummienten, Lipgloss oder Einmachgläsern, ist nur ein Spiegel des grossen, sinnlosen Hordens.
Die Heilung dieser Wunde beginnt nicht mit Affirmationen, sondern mit Wahrnehmung.
Mit dem schlichten Satz: Ich habe schon so viel.
Eine Decke. Brot. Zeit. Hände. Sprache. Menschen. Erde.
Es gilt, unsere innere Fülle zu fühlen, auch dann, wenn unser Bankkonto gegenteiliger Ansicht ist.
Der Trick ist, uns nicht einzureden, dass wir grosse „abundance“ an Geld haben, sondern dass wir selbst, unser gelebtes Leben, unsere Gefühle und Erfahrung und all unsere unausgelebte Kreativität die eigentliche Fülle sind.
Wir manifestieren dies, wenn wir in aller Ruhe einen Pullover aus echtem Garn stricken, der uns ein Leben lang wärmen wird.
Wir verlieren die Fülle, wenn wir den zehnten Polyesterpullover nach Hause schleppen und solange in Plastikkisten lagern, bis er in einer vollgestopften Tüte auf dem Müll landet, für den er ohnehin produziert wurde.
Sobald du, mit deiner Kreativität, deinem Garten, deinem Pinsel und deinen Händen, in deiner eigenen Zeit und in aller Ruhe, wieder produzierst und grosszügig verschenkst, Schönes, Echtes, Nützliches, Kluges, kehrst zu zurück zu Gaias Reichtum.
4. Die Wunde der Unsichtbarkeit („Kaiserinnenwunde“)
Du weißt längst, wer du bist.
Nur sprichst du nicht darüber.
Weil du gelernt hast, dass leuchtende Frauen schnell als gefährlich gelten. Also zügelst du dein Feuer, polierst deine Sätze, dosierst dein Charisma wie Medizin.
So entsteht die Wunde der Unsichtbaren. Sie ist nicht laut, sie arbeitet still und verharrt in den Zwischenräumen zwischen Kompetenz und Schweigen.
Sie flüstert: Spiel klein, bleib klug, sei angenehm.
Und dann kam die Gegenbewegung: die „Boss Girls“, die „Empowered Women“, die glitzernden Karikaturen der Freiheit.
Sie schwingen ihre Designerhandtaschen wie Banner und verkaufen Selbstbestimmung im Abo-Modell. Doch ihre Macht ist ein Kostüm, mit Nähten, die ihre Haut aufreiben wie ein schlecht sitzender BH .
Sie blasen sich auf, ohne Grösse zu verkörpern. Sie imitieren die Pose.
Du hast keine Lust mehr auf Pose.
Deine Macht will gefühlt sein, still, selbstverständlich, unaufgeregt. Macht steht denen zu, die etwas machen. Du willst nicht bewundert werden, sondern wirken.
Vielleicht ist das die wahre Revolution:
Frauen, die sich weigern, noch irgendetwas zu beweisen. Die Macht wieder mit Verantwortung verbinden, mit Stolz und fester innerer Ruhe.
Die Wunde der Unsichtbaren heilt nicht durch Sichtbarkeitstraining, sondern durch Authentizität, die sich nicht mehr entschuldigt.
Sie zeigt sich, nicht um zu glänzen, sondern durch simple Präsens und unkompromitierbare Wirksamkeit.
5. Die Wunde der Stummheit („Priesterinnenwunde“)
Du weißt Dinge, für die es keine Beweise gibt. Du spürst, wann ein Raum lügt, wann ein Mensch nicht ganz anwesend ist, wann eine Wahrheit aus dem Untergrund aufsteigt.
Aber du hast seit Jahrhunderten gelernt, zu schweigen.
Diese Welt, misstraut allem, was aus der Tiefe spricht und den völkermordenden männlichen Gott in seine Grenzen weisst. Daher heisst es, die Frau solle schweigen in der Gemeinde.
Die Wunde der Priesterin sitzt im Hals, im Zwerchfell, im ungesagten Wort.
Sie erinnert sich an all die Jahrhunderte, in denen Frauen zu schweigen hatten, weil Männer das Minopol auf Bedeutung besassen.
Orakel wurden zu Hysterikerinnen, Prophetinnen zu Hexen, Dichterinnen zu Muse.
Wir durften inspirieren, aber nicht definieren. Unsere Wahrheiten wurden nur akzeptiert, wenn sie durch männliche Münder sprachen.Doch die Stimme kehrt zurück.
Nicht als Predigt, sondern als inneres Echo, das nicht mehr zu überhören ist.
Du kennst es: dieses Zittern im Körper, bevor du etwas aussprichst, das zu groß scheint. Das ist der Klang der alten Religion, die sich erinnert.
Die Wunde der Priesterin heilt nicht durch neue Glaubenssysteme, sondern durch Verkörperung – durch Sprache, die aus dem Leib kommt, durch Poesie, die nicht dekoriert, sondern atmet.
Heiligkeit kann nicht besessen oder verliehen werden. Sie ist die Qualität, wenn alles an uns im Einklang ist und nichts mehr lügt. Dies ist ein seltener Zustand, durch Schmerz, der alles, was Ego war zerbrach, erlangt und durch unbeirrbare Achtsamkeit und Bescheidenheit genährt.
Oft dauert dies ein Leben lang.
Heiligkeit kann auch nicht imitiert werden.
Sie scheint in deinem Blick. Sie lebt deiner Haltung.
Sie klingt in jedem Wort, das in diesem Zustand durch dich spricht.
Wenn du das nächste Mal zweifelst, ob du etwas überhaupt sagen darfst, und du wieder das Gefühl in der Kehle spürst, dann erinnere dich: Wer will hier sprechen? Ist es wahr, was da kommen will?
Wenn du soweit bist, lass die Worte wie von selbst durch dich in die Welt kommen, und denke nicht darüber nach, was für Folgen es für dich haben könnte.
Geh ins Vertrauen und sprich.
Sprich.
Nicht, um zu überzeugen. Sondern um dich selbst zu erinnern, dass einst eine Zeit war und nun wieder zurückkommt, in der Frauen das Wort in die Welt trugen und die Welt dadurch heil blieb.
Wir brauchen heute Priesterinnen wie niemals zuvor, und ich glaube, es wächst gerade eine neue Generation genau solcher Frauen heran.
Für sie schreibe ich meine Bücher.
Für sie gibt es den Inanna Salon.
Ein paar Links zum Thema:
Wenn du wissen möchtest, wie die Gedanken über die fünf Wunden sich mit uns (den Frauen von Inanna) entwickelt haben – hier ist der ursprüngliche Text von damals.
Speziell zur Priesterin:
Über die Priesterinnen und weise Frauen, über Scham und Selbsthass und unser schmerzhaftes Schweigen gibt es einen langen Essay, der mir bis heute sehr gefällt.

